HERZ-RATEN-VARIABILITÄT (HRV)

Bereits seit langer Zeit beschäftigen sich Menschen mit dem Puls und dessen Bedeutung und wie er als Hilfsmittel für die Diagnose diverser Krankheitsbilder eingesetzt werden kann. Einer der bekanntesten und sicherlich meistzitierten Menschen in Bezug auf die Herz-Raten-Variabilität ist der vor ca. 1700 Jahren in China lebende Arzt und Heiler Wang Shuhe.

Seine Aussage: „Wenn der Herzschlag so regelmässig wie das Klopfen des Spechts
oder Tröpfeln des Regens auf dem Dach wird, ist der Patient innerhalb von vier Tagen tot», beschreibt sehr schön das Wissen und Bewusstsein, welches bereits zu dieser Zeit in Bezug auf die Bedeutung der Variabilität des Herzens vorhanden war. Sein Buch „Pulslehre“, in dem er den Puls in 24 verschiedene Pulstypen unterscheidet, nahm großen Einfluss auf die chinesische Medizin. Die Analyse des Pulsschlages ist in der traditionellen chinesischen Medizin bis heute ein sehr wichtiger Zugang, um Aufschluss über den Ist-Zustand eines Menschen zu bekommen.

Das autonome Nervensystem (unwillkürliche System), auch vegetatives Nervensystem genannt, umfasst jenen Teil unseres Nervensystems, der für die Aufrechterhaltung der unwillkürlich ablaufenden lebensnotwendigen Vorgänge zuständig ist, wie zum Beispiel Tätigkeiten von Herz, Lunge, Magen, Darm, Harnblase und Blutgefässen. Das autonome Nervensystem hat auch die Aufgabe, das Verhalten des menschlichen Körpers so zu regulieren, dass Aktivität und Entspannung im Gleichgewicht bleiben. Dies wird durch das antagonistische Zusammenspiel von Parasympathikus und Sympathikus erreicht.

Die Herz-Raten-Variabilität oder Herzfrequenzvariabilität beschreibt die Variabilität zwischen aufeinanderfolgenden Herzschlägen. Der Abstand zwischen zwei Herzschlägen wird meistens definiert als die Zeit zwischen dem Beginn zweier Kontraktionen der Herzkammern.

Im Wesentlichen beruht die HRV auf das Zusammenspiel des sympathischen und parasympathischen Systems sowie dem Sinusknoten, welches nur sehr bedingt willentlich beeinflusst werden kann.

Der Sinusknoten ist der primäre Taktgeber der Herzaktion. Er ist der Bereich, in dem die elektrische Erregung gemessen werden kann, welcher für den Sinusrhythmus verantwortlich ist. Das Herz schlägt nicht, wie im Volksmund meist angenommen, regelmässig, sondern variiert von Herzschlag zu Herzschlag. Der Grund dafür ist wie schon erwähnt, unser autonomes (vegetative) Nervensystem beziehungsweise dessen beide „Arme“, der Sympathikus und der Parasympathikus. Der Sympathikus beschleunigt unseren Herzschlag, der Parasympathikus verlangsamt ihn. Dies geschieht schon beim Ein- und Ausatmen. Das kannst du selber ganz einfach feststellen, indem du am Handgelenk oder an der Halsschlagader deinen Puls erfühlst und dann langsam und regelmäßig ein- und ausatmest. Du wirst feststellen, dass dein Herzschlag beim Einatmen schneller wird, beim Ausatmen hingegen langsamer. Sympathikus und Parasympathikus sind Gegenspieler und gleichzeitig Partner und andauernd bestrebt, unser Herz-Kreislauf-System im optimalen Bereich zu halten, um in geeigneter Weise auf externe und interne Reize zu reagieren. Man kann es sich vorstellen wie bei einem Tennisspieler, der ständig seine Haltung verlagert, um jederzeit einen Ball annehmen zu können. Sind wir gesund, ist unser Herz reaktionsschnell und belastbar, es kann angemessen auf jede Situation reagieren. Daher ist Stress per se (wenn der Sympathikus sehr aktiv wird) für einen gesunden Körper kein Problem, da der Parasympathikus schnell wieder eine Balance herstellt und im Körper wieder Ressourcen aufbaut. Verliert das Herz jedoch seine Variabilität und beginnt in einem starren Rhythmus zu schlagen, dann ist das ein deutliches Anzeichen für Krankheit und Disharmonie im Körper. Im Gegensatz zu technischen Anwendungen (Mikrowellen!) oder auch computerisierten Abläufen kennt die Natur keine starren Prozesse und wiederholt sich nie exakt. Alles ist im Fluss und befindet sich in stetiger Veränderung und Vervollkommnung. Der Mensch bildet hier keine Ausnahme.

Es gibt viele Faktoren, die unser autonomes Nervensystem und damit unsere Herz-Raten-Variabilität beeinflussen. Dazu gehören körperliche Aktivität und, wie gesehen, unsere Atmung, doch auch unsere Gedanken spielen eine Rolle und insbesondere unsere Emotionen. Bei emotionalem Stress, also wenn wir negative Emotionen wie Wut, Ärger, Frust oder Angst empfinden, ergibt die Messung unserer HRV ein unregelmäßiges, schwankendes Muster. Physiologisch bedeutet dies nichts anderes, als dass die beiden Teile unseres autonomen Nervensystems aus dem Takt gekommen sind und nicht mehr zusammenarbeiten. Anders gesagt ist es in etwa so, als würdest du versuchen, in deinem Auto vorwärtszukommen, indem du gleichzeitig das Gas- und das Bremspedal drückst. Der Verschleiß von deinem „Vehikel“ ist somit vorprogrammiert und du kommst nicht vom Fleck!

Die Hauptfunktionen des Sympatikus ist vorwiegend, aktive Vorgänge zu steuern. Man spricht häufig von den sogenannten «Fight and Flight-Mechanismen». Er ist zuständig für die Energiebereitstellung, Energieentladung, abbauende Stoffwechselprozesse, Atmung, sowie die Beschleunigung des Herzschlages und Erhöhung des Blutdrucks. Der Sympathikus versetzt den Organismus in eine erhöhte Handlungsbereitschaft, er steigert den Blutglukosespiegel, um rasch eine verfügbare Energiequelle sicherzustellen. Er steigert das Aufmerksamkeitslevel und die Konzentrationsfähigkeit.

Im Gegenzug ist der Parasympatikus generell für Erholungsreaktionen, Energiespeicherung, Verdauung sowie Schlaf und Aufbau zuständig. Er senkt den Blutdruck und verringert den Puls. Der Hauptspieler des Parasympathikus ist der Vagus, der zehnte Nerv des Hirnstamms, manchmal auch als Fächernerv beschrieben. Durch das Einatmen wird seine Funktion gemindert und beim Ausatmen, (nach dem Motto „lass mal Dampf ab“) kann sich der Vagus entfalten.

Wenn man sich jedoch sehr konzentrieren muss, wie bei einem Sprung von einem 10 Meter-Turm, ist das typische „Luft holen“ ein sehr kurzatmiger Rhythmus, bei dem man sich vor allem auf die Einatmung konzentriert…man möchte ja eine Punktlandung machen – somit wird der Sympathikus aktiviert. Ein gut funktionierendes autonomes Nervensystem versucht stets, eine Balance zwischen dem sympathischen und parasympathischen Bereich herzustellen, welches sich vor allem in einer großen Herz-Raten-Variabilität widerspiegelt.

In Ruhephasen überwiegt der parasympathische Einfluss, wobei sich die Variabilität des Herzschlages erhöht. In aktiven Phasen überwiegt der sympathische Einfluss.  

Ein typisches Merkmal für unsere heutige westliche industrialisierte und gestresste Gesellschaft ist die meist herrschende Dominanz des sympathischen Bereichs. Dadurch trainieren wir unser Herz über Jahre hinweg in die Starre und somit in eine eingeschränkte Herz-Raten-Variabilität.

Viele Studien zeigen, dass die HRV im Laufe des Alters abnimmt. Es ist jedoch interessant, dass obwohl diese Beobachtung sicherlich die Regel ist, Menschen, die einen sehr ausgeglichenen und gesunden Lebensstil haben, auch im hohen Alter eine sehr schöne Herz-Raten-Variabilität aufzeigen und auch halten können.

Die HRV ist sehr hilfreich, den Lebensstil und den Ist-Zustand eines Menschen zu widerspiegeln. Das EKG (Elektrokardiogramm) ist heute ein wunderbares Werkzeug, um bereits manifestierte Schwächen und Probleme des Herzens aufzuzeigen. Jedoch ist es oftmals unzureichend, sich allein auf das EKG zu verlassen. Bis zu 70% der Herzinfarkte sind nicht vom EKG „vorhersehbar“.

Die HRV spiegelt die Lebendigkeit des Herzens wider. Man kann diese Lebendigkeit auch als die Veränderung in der Bewegung beschreiben. Generell kann eine hohe Herz-Raten-Variabilität, mit gleichzeitig gesundem Ruhepuls, als Indikator für eine gute Regulationsfähigkeit und somit Selbstheilungsfähigkeit betrachtet werden. Durch ungesunde Lebensgewohnheiten, wie wenig Bewegung, einseitige Ernährung und zu viel psychischem und emotionalem Stress „trainieren“ wir unser Herz förmlich in die Starre und in eine eingeschränkte Variabilität. Sowie sich der Mensch, wenn er Angst hat, zusammenzieht, um sich zu schützen, „schützt“ sich das Herz, indem es seine Variabilität verringert und schlimmstenfalls eine Herz-Mauer errichtet.

Kurzkettige Kohlenhydrate wie Zucker, weißes Mehl (raffinierte Produkte) etc. sind die „Antreiber“ für einen schnellen Puls oder Blutdruckprobleme. In Kombination mit gesättigten Fetten, konstantem psychischem Stress, wenig Schlaf und Ruhephasen, eingeschränkter körperlicher Aktivität, ist ein konstant erhöhter Puls, mit gleichzeitig stark reduzierter Herz-Raten-Variabilität, ein typisches Bild.

Neben menschlichen Gewohnheitsmustern beeinflussen auch äussere Einflüsse unsere HRV. Elektromagnetischer, und vor allem stark gepulster „Stress“ wie von WLAN, Mobilfunk, digitalem Fernsehen wird sicherlich in naher Zukunft als weiterer mitverantwortlicher Faktor für eine reduzierte Herz-Raten-Variabilität und kulturell bedingte, typischen Krankheitsbilder herangezogen werden. Ebenfalls beeinflussen Umweltfaktoren wie Luftverunreinigung, Lärmbelästigung und kontaminiertes Trinkwasser unsere HRV.

Eine Studie von Richard Sloan et al zeigt auf, dass sich ebenfalls der soziale Status in der HRV widerspiegelt. Wundervolle Arbeiten von Stephen Porges zeigen, dass sich sogar die HRV mit sozialem Verhalten in Verbindung bringen lassen. Ein anderer Aspekt ist der mediale Stress der „Unter-halt(en)ungs-Industrie“ und die ständige Angstmache nach dem Motto «only bad news are good news». Dies hat einen starken Einfluss auf unsere Psyche und somit auch auf unsere Herz-Raten-Variabilität.

Interessant ist, dass sich unser HRV stark von der mentalen Aktivität beeinflussen lässt. In dem Moment, wo wir mental fokussieren, „fokussiert“, mit anderen Worten, schränkt sich unsere HRV ein. Unsere Gesellschaft ist förmlich eine „bring es auf den Punkt Gesellschaft“, mit dem scheinbar unweigerlichen Nebeneffekt, dass sich auch unsere HRV im Laufe der Zeit mehr und mehr zu einem Punkt zusammenzieht und somit unsere Selbstregulationskraft stark in Mitleidenschaft gezogen wird. Statistiken der westlichen industrialisierten Länder zeigen, dass die häufigste Todesursache heute Herzkreislauferkrankungen sind.